Prolog "Saitenglück mit Zimtgestöber"

Triggerwarnung: Frühgeburt (nur Prolog)

Nils

Gute fünf Jahre zuvor

 

Der Duft von abgeschliffenem Holz umgibt mich. Es riecht großartig. Nach getaner Arbeit und Fortschritt. Nach Zuhause. Das es einmal werden soll.
Mit einer Leihmaschine schleife ich die Fußbodendielen in unserem zukünftigen Wohnzimmer ab, als mein Handy in der Hosentasche vibriert. Genervt atme ich durch.
Nicht schon wieder. Sie weiß doch, dass ich jeden verdammten Abend nach Ladenschluss die Wohnung renoviere, damit wir endlich hier einziehen können.
Seit wir in meiner Heimatstadt Langwieck wohnen, hat Larissa viel zu viel Zeit für sich selbst und hört die Regenwürmer husten. Jedes kleine Ziepen versetzt sie in Panik um unser Kind. Und das teilt sie mir mit. Jedes Mal.
Ich habe gelernt, diese Anfälle mit der gebührenden Aufmerksamkeit über mich ergehen zu lassen und schlicht die Ruhe zu bewahren. Genervte Seufzer oder Durch-die-Nase-Schnauben unterdrücke ich mühsam, wenn Larissa mal wieder sinnlos panisch wird.
Mir ist sehr wohl klar, dass nicht alles leicht ist, wenn ein Baby in ihr heranwächst. Dafür habe ich Verständnis. Aber ich kann die Gewichtigkeit oft nicht einschätzen, wenn Larissa die Füße wehtun oder der Rücken verspannt ist. Meine Mutter meinte, das sei alles normal und ich solle mich um sie kümmern. Larissa bräuchte nur ein bisschen Verständnis und Liebe. Mit diesem Rat fahre ich gut. Und die Phasen sind tatsächlich immer nur von kurzer Dauer. Meist, wenn sie genervt ist, weil sie kein Bild verkauft hat oder ihr eines nicht so gelungen ist, wie sie sich das vorgestellt hat. Oder wenn ihr der größer werdende Bauch im Weg ist und sie sich nicht mehr ganz so leicht und elegant vor der Leinwand bewegen kann.
Ich habe gelernt, mit diesen Stimmungsschwankungen umzugehen. Sie ernst zu nehmen, aber nicht in Panik zu verfallen.
Mit einem schweren Seufzer ziehe ich das Telefon hervor und Larissas graziles Gesicht prangt mir auf dem Display entgegen. Hübsch ist sie. Trotzdem mag ich ihren Anruf nicht entgegennehmen, aber irgendetwas bewegt mich doch dazu. Ich stelle die Schleifmaschine ab und bevor ich überhaupt Hallo sagen kann, schrillt mir ihre Stimme entgegen: »Komm her. Sofort. Meine Fruchtblase ist geplatzt.«
Bitte? Was soll das heißen? Fruchtblase geplatzt?
Scheiße.
»Bin unterwegs.«
Fast fällt mir das Telefon aus der Hand, als ich es in die Hosentasche zurückschiebe.
Dreiunddreißigste Woche. Verdammt. Es ist zu früh. Viel zu früh.
Eilig wasche ich mir den Schmutz von Händen und Gesicht, renne die Treppe hinunter und springe ins Auto.
Ein kurzer Anflug von schlechtem Gewissen überrollt mich, weil ich die Wohnung noch nicht einzugsfertig renoviert habe. Es ist nicht so, dass wir kein Dach über dem Kopf hätten, doch die Zweizimmerwohnung wird auf Dauer zu klein.
Deshalb renoviere ich das Haus, das ich von meinen Großeltern geerbt habe. Um Geld zu sparen, erledige ich fast alles selbst. Oder zusammen mit Freunden. Meine Priorität lag zunächst auf dem Einrichten einer Werkstatt und des Ladens, in dem ich Musikinstrumente verkaufe. In der Werkstatt, die sich in einem seitlichen Anbau auf der Rückseite befindet, baue und repariere ich Celli und Kontrabässe. Das ist meine Leidenschaft und mein Beruf. Und damit verdiene ich unseren Unterhalt.
Die Werkstatt ist ganz gut angelaufen. In Berlin hatte ich mir einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Die Kunden sind mir bis hierher an die Ostseeküste gefolgt. Berufsmusiker nehmen einen weiten Weg in Kauf, wenn sie ihre wertvollen Instrumente in guten Händen wissen wollen. Das ist mein Glück.
Seit über einem halben Jahr nutze ich jede freie Minute, um im ersten und zweiten Obergeschoss des Hauses eine Wohnung für uns einzurichten. Es geht vorwärts, aber Larissa nicht schnell genug. Nur, mehr als arbeiten kann ich nicht. Und es steht mir auch nicht unendlich viel Geld und Zeit zur Verfügung. Im Moment gleich gar nicht. Es gibt Wichtigeres. Genau jetzt.
Mit Bremsspuren auf dem Asphalt halte ich im Parkverbot vor dem Haus, in dem wir derzeit wohnen. Springe aus dem Auto. Knalle die Tür mit zu viel Schwung zu. Spurte in den zweiten Stock hinauf. Nehme zwei Stufen auf einmal.
Mit zitternden Fingern schaffe ich es nur mit Mühe, den Schlüssel in das Schloss zu stecken. Als die Tür endlich aufspringt, seufze ich erleichtert.
Die Erleichterung hält nur einen Sekundenbruchteil an.
Larissa sitzt am Küchentisch, die Hände hat sie auf den Beinen abgestützt und atmet bewusst. Sie wirft mir einen Blick zu, der mich töten könnte. Ich ignoriere ihn. Sie hat Angst.
Ich auch.
»Was hast du so lange gemacht?!«, schleudert sie mir entgegen.
»Entschuldige. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Sie rührt in meinem schlechten Gewissen. Doch das schiebe ich jetzt beiseite. Dafür ist keine Zeit.
Aber was jetzt? Ich habe keinen Plan. Mein Gehirn arbeitet nicht rational.
»Krankenhaus?«, frage ich unnötigerweise. Ich stehe echt total neben mir.
»JA!«, schreit sie.
Berechtigt.
Ich schnappe mir ihren Daunenmantel und halte ihn, sodass sie hineinschlüpfen kann. Dann greife ich nach der Tasche fürs Krankenhaus, die an der Wohnungstür liegt. Seit drei Wochen. Obwohl in jedem Schwangerschaftsratgeber steht, dass das erst ab der sechsunddreißigsten Woche notwendig sei. Es stand wirklich in jedem Ratgeber, den ich gelesen habe. Und ich habe unzählige davon gelesen. Nicht, weil ich es wichtig fand. Ich war der Meinung, ein kleiner Überblick sollte reichen. Den Rest könnte man eh nicht vorhersehen. Aber es beruhigte Larissa. Deshalb habe ich sie alle gelesen.
In diesem Augenblick bin ich froh, dass sie so überängstlich agiert hat.
Ich gehe neben ihr die Treppe hinunter. Sie kann nicht schnell gehen, versucht es aber. Meine Hand lege ich unter ihren Unterarm.
Sie stöhnt genervt und entreißt sich mir.
»Fass mich bloß nicht an«, faucht sie.
Ich unterdrücke den Drang, unter ihrer Wut zurückzuspringen. Dann trage ich eben die Tasche. Ist auch eine Art von Unterstützung.
Verdammt. Ich würde ihr gern helfen, mit mehr als nur dem Tragen dieser Reisetasche.
Larissas ganze Haltung ist so abweisend.
Vielleicht suche ich diese Berührung auch für mich. Ich stütze sie. Sie stützt mich. In gewisser Weise.
Sie lässt mich nicht. Es ist, als hätte sie lauter Kakteenstacheln auf ihrer Haut, vor denen ich zurückweiche.
Ich umklammere die Griffe der Tasche, mehr als es notwendig wäre. Die stechen nicht.
»Das Auto steht gleich vor der Tür«, erkläre ich hilflos.
Sie schnaubt nur.
Ich ignoriere.
Vorsichtig und etwas behäbig lässt sich Larissa mit ihrem runden Bauch auf dem Beifahrersitz nieder. Ich würde ihr gern helfen, doch ich weiß nicht, wie. Halte ihr die Hand hin, die sie unerwartet fest umklammert.
Den Schmerz meiner gequetschten Fingerknöchel ignoriere ich ebenfalls.
Als sie nach dem Gurt greift, werfe ich die Tür zu und eile auf die Fahrerseite. Rasch drehe ich den Zündschlüssel und fahre los. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie schnell ich fahren soll. Nicht, dass sie sich unwohl fühlt, wenn ich rase und durch die Kurven jage. Oder es plötzlich glatt ist. Zum Glück schneit es nicht. Aber die Straßen sind winternasskalt.
Ich war noch nie in solch einer Situation. Ich will nichts falsch machen.
Aber scheinbar tue ich genau das. Larissas genervtes Stöhnen schallt durch den Innenraum und dröhnt in meinem Kopf. Das Augenrollen sehe ich zwar nicht, kann es jedoch spüren. Dafür kenne ich sie lang genug.
»Langsamer geht’s nicht?« Ihre Stimme tropft vor Sarkasmus.
Leise atme ich aus. Versuche, ihre Bemerkung nicht persönlich zu nehmen. Sie ist in einer Ausnahmesituation.
Ich scanne sie mit einem flüchtigen Blick. Sie hat die Augen geschlossen und die Lippen zusammengepresst. Vorhin waren ihre Wangen so eigenartig rot. Richtig leuchtend. Aber nicht auf eine gute Art. Im Auto ist es zu dunkel, um zu erkennen, ob das immer noch so ist. Ich vermute es mal.
Ihr Bauch ist seltsam rund und gespannt. Das ist mir heute Morgen bereits aufgefallen, aber diese Gedanken habe ich für mich behalten. Hätte ich vielleicht doch nicht machen sollen. Aber warum hat sie nichts gesagt? Wenn es ernst zu sein scheint, sagt sie nichts. Nicht ein Wort.
»Wir hätten einen Krankenwagen rufen sollen«, wende ich ein, während ich in Richtung Rostock düse.
»Ich will aber nicht in … so einem … schrecklichen Ding fahren. Außerdem, was … sollen die … Nachbarn denken, wenn ein Rettungs…wagen mich mitnimmt, in den … ich hineinklettere?«, empört sich Larissa stockend. Sie scheint Wehen zu haben.
Verdammt. Das ist nicht gut.
Ich meine gelesen zu haben, dass sich Fruchtwasser immer nachbildet. Aber reicht das jetzt noch aus?
Unauffällig schiele ich zu ihr hinüber. Alles trocken. So weit, so gut.
Oder?
Keine Ahnung.
Ich umgreife das Lenkrad, suche dort Halt, während ich über die dunkle Landstraße nach Rostock fahre. Es sind nicht mehr viele Autos unterwegs. Doch die Straße ist nass. Und es ist kalt draußen. Noch kein Frühling. Und ich weiß immer noch nicht, ob ich zu langsam oder zu schnell bin. Ich habe kein gutes Gefühl bei dem, was wir gerade tun.
»Sollen wir nicht doch lieber den Rettungsdienst rufen?«, wage ich noch mal einzuwenden.
»Nein, das geht schon.« Sie klingt neutral.
Soll mich das beruhigen? Ich weiß nicht so recht. Hoffentlich geht das gut.
Am liebsten würde ich das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrücken, aber das wäre zu gefährlich. Ich versuche, das richtige Maß zwischen Sicherheit und Rasen zu finden. So wie ich versuche, in mir die Balance zwischen Panik und Kontrolle zu finden. Die Strecke zieht sich heute in die Länge. Wahrscheinlich stimmt das nicht, wenn man jetzt mal ganz objektiv die Zeit stoppen würde. Aber gefühlt dauert es eine Ewigkeit, bis wir endlich in Rostock ankommen.
Das Krankenhaus ist in greifbarer Nähe. Gerade ist so ein Moment, wo ich ein bisschen bereue, so weit draußen auf dem Land zu wohnen. Die Gesundheitsversorgung lässt dort zu wünschen übrig. Einen Notfall zu haben, ist schwierig. Dann wäre es ratsam, den Rettungsdienst zu bemühen. Doch dabei habe ich heute nur bedingt bis gar kein Mitspracherecht.
Larissa bemüht sich sehr um Ruhe. Sie atmet bewusst ein und aus. Ihre Hände liegen schützend auf ihrem Bauch, in dem unserem kleinen Wunder irgendetwas nicht mehr gefällt. Das kann ich gar nicht verstehen. Denn Larissa schaut echt hübsch aus mit ihren dunklen Locken, die ihr wirr über die Schultern fallen und gerade überhaupt nicht frisiert sind. So mag ich es am liebsten. Zu meinem Bedauern trägt sie die Haare fast nie offen. Höchstens morgens, wenn sie aufsteht. Aber sobald sie aus dem Bad zurückkommt, hat sie ihre Mähne gezähmt. Leider. Ich kann ihr noch so oft sagen, wie schade ich das finde. Sie meint, sie könne mit den ganzen Haaren im Gesicht nicht malen. Meiner Meinung nach liegt das nicht unbedingt an der Frisur, aber das ist bekanntlich Geschmacksache. Es gibt Leute, die halten ihre Bilder für fantastisch und blättern einiges an Geld dafür hin. Ich persönlich kann das nicht nachvollziehen. Mir sind ihre Werke zu düster, zu wirr, zu undurchschaubar. Meine Augen und mein Hirn finden darin einfach keine Ästhetik.
Müssen sie auch nicht. Ich liebe Larissa aus anderen Gründen. Zum Beispiel ihre Grazie und Leichtigkeit, mit der sie durch das Leben wandelt. Ja, fast schwebt. Als wäre die Welt ihr Laufsteg. Diese künstlerische Eleganz scheint ihr angeboren zu sein. Ihr Humor hat sich leider hinter den Hormonschwankungen versteckt.
Sie ist eine hinreißende Schwangere. Ehrlich. Und wenn sie wie ein Rohrspatz schimpft, weil sie mal wieder nicht über ihren Bauch hinweg an die Leinwand rankommt, muss ich oft lachen. Das findet sie nicht immer lustig. Mit einer Umarmung und Streicheln über diesen süßen runden Bauch kann ich ihr diese Missstimmung wegzaubern. Dann lehnt sie ihren Kopf gegen meine Brust und lässt sich von mir halten. Bis die Wut verraucht ist. Allerdings wird mit zunehmender Schwangerschaft mein Einfluss dahingehend schmäler. Vielleicht sind auch daran die Hormone schuld.
»Fünf Minuten noch«, informiere ich sie, hoffentlich beruhigend. Wahrscheinlich will ich damit nur mich selbst beruhigen. Diese fünf Minuten sind eine pure Floskel. Wir brauchen sicher zehn.
Die Straßenlampen erhellen die Nacht und ich werfe erneut einen flüchtigen Blick rüber zu Larissa. Das Gesicht ist zu einer undurchdringlichen Maske erstarrt. Die Wangen könnten Lava Konkurrenz machen. Das bereitet mir Sorge. Große Sorge. So habe ich sie noch nie erlebt.
Endlich haben wir das Krankenhaus erreicht und einen Parkplatz in der Nähe der Notaufnahme gefunden. Ein Blick in ihre Augen verrät mir ihre panische Angst. Sie spiegeln gerade mein Innerstes.

Larissa leistet ganze Arbeit. Konzentriert sich auf die Geburt. Führt die Anweisungen der Hebamme durch. Schwitzt. Jammert. Weint. Schreit. Atmet.
Und ich? Was tue ich?
Händchen halten.
Die Schreie aushalten, die meine Freundin mal lauter, mal leiser ausstößt.
Hilflos muss ich ihr zusehen, wie sie leidet, versucht, die Schmerzen auszuhalten oder wegzuatmen. Den Geburtsvorbereitungskurs konnten wir nicht mehr besuchen. Der wäre nächste Woche gestartet. Vielleicht hätte ich dann mehr gewusst. Gewusst, wie ich ihr helfen, sie unterstützen kann.
Jetzt stehe ich einfach nur planlos neben ihr und halte ihre Hand. In der sie verdammt viel Kraft bündelt. Doch mein Schmerz ist nichts gegen ihren.
Ich beobachte die Hebamme genau. Ihre wechselnde Mimik mit den größer werdenden Sorgenfalten auf ihrer Stirn, während sie Larissa untersucht, bleibt mir nicht verborgen. Auch wenn sie es versucht.
Die Dringlichkeit in ihrer Stimme, mit der sie nach der Ärztin ruft, entgeht mir nicht.
Ebenso die vielsagenden Blicke, die beide untereinander austauschen, während nun die Ärztin Larissa untersucht.
»Wir müssen einen Kaiserschnitt machen. Ihrem Kind geht es nicht mehr gut«, teilt die Ärztin uns emotionslos mit. Besorgnis strahlt mir aus ihrem Gesicht entgegen.
»Ist alles vorbereitet?«, wendet sie sich an die Hebamme, die eilig irgendwelche Dinge organisiert.
»Ja. Der OP ist frei.«
»Dann los.«
Was jetzt passiert, kann ich gar nicht so schnell realisieren. Larissa wird weggebracht. Mich schicken sie in einen anderen Raum. Jemand schließt hinter mir die Tür. Vier weiße Stühle sind ordentlich paarweise gegenüber aufgereiht. Mit vier Schritten habe ich den Raum durchquert. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich das in den vergangenen Minuten gemacht habe.
Ein paar Zeitschriften liegen auf einem Beistelltisch. Die lachenden Kinder- und Müttergesichter will ich in der Luft zerreißen. Vor dem Fenster die Lichter der Stadtnacht. Hier drinnen hartes Neonlicht. An den kühlweißen Wänden hängen Fotos von Blumenwiesen. Ich könnte draufkotzen.
Doch ich stehe rum.
Wieder sinnlos.
Was soll ich hier?
Ich will zu Larissa und unserem Kind.
Was passiert da gerade?
Eine andere Frau vom Personal kommt zu mir und reicht mir eine Flasche Wasser und ein Glas. »Hier. Trinken Sie. Das dauert jetzt ein bisschen.«
»Wie lange?«, brumme ich.
Sie zuckt nur mit den Schultern. »Eine halbe Stunde. Vielleicht eine Stunde.«
Dann dreht sie sich um und lässt mich allein. Allein in einem Raum, in den die Schreie einer anderen Frau aus dem Kreißsaal zu mir dringen. Gefolgt von einem Babyschrei.
Das will ich auch.
Jetzt.
Sofort!

Zwei Stunden später
Larissa ist inzwischen aufgewacht. Sie haben ihr eine Vollnarkose gegeben, weil es schnell gehen musste. 
Auf ihr liegt unsere Tochter. Eingehüllt in eine warme Decke und unsere Liebe. Ich sitze auf der Bettkante und streichle unserem kleinen Mädchen über den Kopf. Sie ist das zauberhafteste, unglaublichste Wesen, das ich je gesehen habe. Ihr blonder Flaum ist so seidigweich unter meinen rauen Fingern. Ich traue mich kaum, mit mehr als den Fingerspitzen über diese unfassbar zarte Babyhaut zu streichen. Will sie nicht verletzen. Und doch lege ich federleicht und beschützend meine ganze Hand auf ihren Schopf. 
Sie wirkt so irre winzig unter meiner großen Hand.
Ich neige meinen Kopf, lege behutsam meine Lippen auf ihre Wange. Inhaliere ihren Babyduft. Ein Duft, der so anders ist als alles, was ich jemals wahrgenommen habe. Ein zarter Duft, der wohlig warm in mich eindringt. Sich tief in mein Herz einkuschelt. Meine Liebe verzehrt und gleichzeitig unermesslich wachsen lässt.
Ein Wunder.
Ein knautschiges Wunder, das völlig zufrieden Haut auf Haut mit ihrer Mama schmust.
Ich hebe meinen Kopf und blicke zu Larissa. Sie lächelt mich liebevoll an und ich hauche ihr einen glücklichen Kuss auf die Lippen.
»Gut gemacht«, flüstere ich.
»Ich habe gar nichts gemacht.«
»Doch. Hast du. Glaub mir. Ich habs gesehen.«
Unsere Tochter ist an einen Monitor angeschlossen. Zur Überwachung. Aber es geht ihr gut. Es geht beiden gut. Und ich bin einfach nur erleichtert darüber.
»Wir haben noch keinen Namen«, flüstere ich, weil ich unser Würmchen nicht aufwecken möchte. Sie sieht so friedlich aus. 
In diese Stille kracht ein Piepen. Laut und alarmierend. 
Verwirrt sehe ich zu dem Monitor. Dort blinken Zahlen. Doch ich kann damit nichts anfangen. 
Der Kinderarzt von vorhin stürmt ins Zimmer, gefolgt von einer Hebamme. Ich springe vom Bett und dann geht alles furchtbar schnell. Der Arzt versucht zwar, unsere Tochter liebevoll aufzunehmen, doch die Dringlichkeit dahinter kann er nicht verbergen. Er bringt sie in einen Nebenraum, zu dem man mir den Zutritt verweigert. Wie ein Idiot stehe ich vor der verschlossenen Tür und starre das dumpfe Grau an.
»Was passiert dort? Was ist mit unserem Baby?« Larissas Stimme ist schrill und voller Angst.
Langsam drehe ich mich zu ihr um. Zucke nur hilflos mit den Schultern. »Keine Ahnung«, krächze ich leise. 
In meinen Augen brennt es. Tränen kämpfen sich nach draußen. Ich blinzle, schlucke sie mühsam runter. Das letzte Mal habe ich geweint, als mein Vater gestorben ist. Vor einer gefühlten Ewigkeit. 
Auf Larissas Gesicht breitet sich Panik aus. Verstehe ich.
Und in mir steigt ein ungutes Gefühl auf, kriecht wie ein Dämon in jede Pore. Meine Beine zittern und bevor ich jetzt zusammenfalle, rette ich mich zu Larissa. Lege mich neben sie auf die Bettkante, nehme sie in den Arm. Suche selbst Halt.
Gerade eben sind wir auf einer Welle voller Glück geschwommen. Und nun ist dieser Tornado hereingestürmt. Ist über uns hinweggetost. Lässt uns mit eiskalter Einsamkeit zurück.

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