Prolog "Auf Saitenwegen zu dir"
Triggerwarnung: Depression
Eingekuschelt in eine Decke, mit einem wohlschmeckenden Glas Rotwein und ihrem Lieblingsbuch, lag Mel auf ihrem Sofa. Zwar hatte sie den Steppenwolf von Herrmann Hesse schon zig Mal gelesen, doch entdeckte sie stets neue Aspekte. Irgendwie faszinierte sie dieses Buch so sehr, dass sie es immer mal wieder las.
Aus der Wohnung nebenan drangen seltsame Geräusche zu ihr herüber. Verwundert löste sie den Blick von ihrem Buch. Es hörte sich an, als würden Möbel kraftvoll umher geschoben und Schubladen herausgerissen werden. Und dieses Klirren jetzt. Wie zerbrechendes Glas und Geschirr. Und diese Musik. Zuächst dachte Mel, der Student in der Wohnung über ihr hätte mal wieder kein Taktgefühl betreffend der Lautstärkeregelung in einem Mehrfamilienhaus. Aber inzwischen war sie sich sicher, dass all diese Laute von nebenan, aus der Wohnung ihrer besten Freundin Anina, kamen. Die allerdings jetzt noch auf den Berg gehen und dort übernachten wollte. An dem Ort, wo es passiert war. Heute vor einem Jahr.
Das war alles sehr seltsam. Sie musste nachschauen, was da los war. Sollte sie vielleicht Anina anrufen?Aber bei dem Lärm, würde sie das Telefon eh nicht hören.
Kurzentschlossen schob sie die warme Kuscheldecke zur Seite, strampelte ihre Füße frei, ging zur Wohnungstür, wo sie schnell in ein paar Turnschuhe schlüpfte, nahm den Haustürschlüssel von der Kommode und lief eiligst die Stiege hinunter.
Als sie ins Freie trat, fröstelte es sie. Bei diesen Temperaturen wollte Anina draußen schlafen?
Hinter ihr fiel die Eingangstür des Mehrfamilienhauses stockend ins Schloss. Zügigen Schrittes ging sie hinüber zum Nachbareingang. Mit Aninas Zweitschlüssel öffnete sie die Haustür und mit jeder Stufe wurden ihre Schritte schneller. Ihr war ziemlich mulmig zumute. Hoffentlich ging es Anina gut. Wieso nur kam diese Musik aus Aninas Wohnung? Und so laut. Sie dröhnte bis hier ins Stiegenhaus. Anina drehte die Musik nie so weit auf.
Okay, Ruhe bewahren, ermahnte sie sich selbst.
Mel zwang sich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Was, zum Teufel, war in der Wohnung ihrer Freundin los?
Nach der ersten Etage stürmte sie bereits, zwei Stufen auf einmal nehmend. Na gut, Ruhe bewahren klappte nicht.
Als sie vor Aninas Wohnungstür stand, hörte sie von drinnen Dinge heftig zu Boden fallen und zerbersten sowie Wutgeschrei, das eindeutig ihrer Freundin entstammte. Okay, Anina war daheim. Das war schon mal gut. Und doch beruhigten Mel die Geräusche nicht im Geringsten. Anina rastete nie aus. Sie konnte wütend und sauer sein, doch verlor sie niemals die Beherrschung. Ihr Wortschatz umfasste derbe Ausdrücke, doch wählte sie diese immer mit Bedacht. Aber das hier war alles andere als bedächtig. Ihre Freundin fluchte und schrie und fand für Patrick die unsittlichsten Beschimpfungen.
Sie musste jetzt wissen, was da los war. Mel klingelte, doch das Getose in der Wohnung wurde nicht unterbrochen. Anina öffnete ihr nicht und Mel war inzwischen wirklich zu besorgt, um länger zu warten. Deshalb öffnete sie die Tür selbst und durchschritt zügig den kleinen Flur. Ein kurzer Blick in die Küche sagte ihr, dass dort alles wie immer war. In der Wohnzimmertür blieb sie wie erstarrt stehen. Ihr Mund öffnete sich, doch das Bild, das ihre Augen wahrnahmen, ließ keinen Laut über ihre Lippen kommen. Das sonst so gemütliche Wohnzimmer glich einem Trümmerfeld. Stühle, Sessel und Wohnzimmertisch waren umgeworfen und lagen überall verstreut. Die Schubladen der Kommode mit den ganzen CDs und Noten waren quer durch das Zimmer geschleudert worden. Auf und um den Esstisch herum lagen Berge von Scherben des Geschirrs, das Anina und Patrick bei einer Töpferin gekauft und so geliebt hatten. Fotos von den Wänden waren überall unter und zwischen den umgeworfenen Möbelstücken verstreut. Und Anina stand gerade in ihrer vollen, beeindruckenden Größe vor einem Schrank und schlug mit aller Wucht ihre Gitarre gegen ebendiese Kommode, sodass das Instrument brach. Erneut holte sie aus, ließ es wieder und wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht und Wutschreien niedersausen, bis sie nur noch den Gitarrenkopf in der Hand hielt. Tränen strömten ihr über die Wangen, sie ließ sich erschöpft in das Chaos zwischen Kleidern, Scherben von Fotorahmen, Bildern, Gitarrenresten und Möbelteilen zu Boden sinken und schluchzte so laut, dass es Mel das Herz zerriss.
Langsam löste Mel sich aus ihrer Schockstarre und ging hinüber zu Anina, die zusammengekauert am Boden saß und so winzig und zerbrechlich wirkte, wie das zersplitterte Glas des Bilderrahmens neben Aninas Füßen.
Unter Mels Schuhen knirschten Stifte und Scherben, Fotos, Papier und Holzteile. Sie hockte sich neben Anina, nahm sie still und sanft in den Arm und hielt sie einfach fest. Anina ließ sich in die Umarmung fallen, schmiegte sich an Mel und allmählich verebbte ihr Schluchzen. Während Mel ihr tröstend über den Rücken streichelte, wurde Anina ruhiger.
Sie ist so dünn geworden, dachte Mel. Dabei war noch nie viel an ihr dran. Nicht, dass sie dürr gewesen wäre, sie hatte kleine wohlgeformte Rundungen mit sportlichem Esprit. Doch auch die waren, wie so vieles in den zurückliegenden Monaten, verschwunden.
Mel wusste nicht so genau, wie lange sie beide so in ihren Gedanken versunken dasaßen. Irgendwann stand sie vorsichtig auf, zog Anina sanft mit sich, nahm sie an die Hand und verließ mit ihrer besten Freundin die Wohnung. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, die Treppenstufen unter ihren Füßen nahm sie kaum wahr. Wichtig war nur, dass sie Anina aus dieser Wohnung, aus diesem Haus hinausführte und mit zu sich nahm.
Anina ließ alles mit sich geschehen.
In ihrer Wohnung angekommen, führte Mel sie ins Schlafzimmer, gab ihr mit sanftem Druck zu verstehen, dass sie sich ins Bett legen sollte. Mel zog ihr die Schuhe aus, deckte sie zu und legte sich neben sie. Mit teilnahmslosem Blick starrte Anina zur Decke. Irgendwann schloss sie die Augen und fiel in einen erschöpften Schlaf. Mel kam kaum zur Ruhe, zu sehr beunruhigte sie die heutige Aktion ihrer Freundin. Und so fand sie nur in einen oberfächlichen Schlaf.
Als Mel am nächsten Morgen aufwachte, lag Anina schon mit offenen Augen neben ihr und starrte wieder apathisch an die Decke. Als hätte sie nur kurz die Augen geschlossen und heute wieder geöffnet. Eine kleine Träne hing in ihrem Augenwinkel wie eine vergessene Perle. Ihre Wangen waren eingefallen, die Haut so fahl. Mel war sich nicht mal sicher, ob Anina blinzelte. Doch der Brustkorb hob und senkte sich. Gut. Sie atmete. Also war sie am Leben. Mel stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.
»Ich mache uns Frühstück«, legte Mel pragmatisch fest und verließ schwungvoll das Bett. Sie musste jetzt etwas tun. Vielleicht half ein normaler Tagesbeginn, dass Anina wieder zu sich kam. Ehrlicherweise machte ihr diese fast regungslose Anina noch mehr Angst als die wütende von gestern.
In der Küche deckte sie den Tisch, schnitt etwas Brot und Obst auf und ließ gerade eine Tasse Kaffee aus ihrem Vollautomaten, als Anina wie ein Geist in der Tür erschien. Ihre sonst so wundervollen hellbraunen Haare hingen strähnig an ihr herab, ihr Gesicht wirkte grau und die Ringe unter den Augen zeichneten sich bis über die Wangen ab. Mels Freundin war immer so fröhlich und lustig gewesen, hatte das Leben geliebt. Aber seit einem Jahr stand sie so neben sich, dass Mel es kaum noch ertragen konnte, sie leiden zu sehen. Es gab bessere und schlechtere Tage und eigentlich hatte sie geglaubt, so langsam ginge es aufwärts.
Der Jahrestag war unvermeidlich näher gekommen. Und damit auch die intensivere Konfrontation mit dem, was an diesem Tag geschehen war. Dass es Anina so aus der Bahn werfen würde, hatte sie nicht erwartet. Allerdings war gestern Abend endlich mal die ganze Wut aus ihr herausgebrochen, die schon so lange in ihr schwelte. Mel hatte sich schon gefragt, wie Anina sich immer so unter Kontrolle halten konnte. Zumindest in der Öffentlichkeit. Wenn sie unter sich waren, stierte sie meist vor sich hin. Die so geliebten Mädlsabende in angenehmer Gesellschaft von Aperol Spritz waren nicht mehr die lustigen Ratschrunden. Anina lachte nicht mehr. Manchmal zwang sie ein Lächeln an passender Stelle hervor. Aber so ein herzliches, lautes Lachen wie früher brachte sie nicht mehr zustande. Von Sorgen zu erzählen, wagte Mel kaum. Und wenn, dann spürte sie, dass Aninas Reaktion die Anteilnahme fehlte. Ihre Freundin war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber nie wütend.
Mel hingegen war schon wütend. Wütend auf Patrick, weil er sich einfach davon geschlichen hatte.
Mel stellte den Kaffeebecher neben einen der Teller auf dem Tisch. »Komm, setz dich. Wir essen jetzt erst mal was. Und dann besprechen wir, wie es weitergeht.«
Mit einem Nicken schlich Anina zum Stuhl, ließ sich nieder, umgriff mit beiden Händen die heiße Kaffeetasse und führte sie mit starrem Blick zum Mund. Den ersten Schluck nahm sie völlig teilnahmslos zu sich, doch mit jedem weiteren entspannten sich ihre Gesichtszüge. So kehrte nach und nach Leben in sie zurück. Mel ihrerseits hielt die Kaffeetasse fest umklamert und beobachtete Anina sehr genau.
Es entglitt Mel ein erleichterter Seufzer. Und dieser kleine Seufzer ließ ein ebenso kleines Wunder geschehen: Anina lächelte. Zwar nur ein klitzekleines Bisschen, aber immerhin. Für Mel fühlte es sich an, als wäre ihre Freundin von den Toten zurückgekehrt. Mel löste nach und nach den Griff um ihre Tasse, sodass die Farbe in ihre Fingerknöchel zurückkehrte. Das Highlight des Morgens war, als Anina sich ein Stück Banane in den Mund schob.
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